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11.Januar 2003: Kinderheilkunde
Der angeborenene muskuläre Schiefhals
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von Renée Lampe, Jürgen Mitternacht und Rainer Gradinger
Orthopädische Abteilung des Klinikums Rechts der Isar der TU München

Der kongenitale (= angeborene) muskuläre Schiefhals Die Zwangsfehlstellung beim kongenitalen muskulären Torticollis (KMT) wird durch einseitige Kontraktur des M. sternocleidomastoideus hervorgerufen. Die Angaben zur Prävalenz (=Vorkommen) schwanken zwischen 0,3% bis 2,0% . Der angeborene muskuläre Schiefhals kann sich bereits beim Neugeborenen manifestieren, spätestens während des 1. Lebensmonats. Unbehandelt können sich sekundäre Fehlbildungen entwickeln, wie z. B. Skoliose (= Verkrümmung) der HWS und Gesichtsskoliose. Der KMT steht in der Häufigkeit angeborener muskuloskelettaler (= Muskeln und Knochen betreffend) Fehlstellungen an vierter Stelle nach Hüftdysplasie, Klump- und Hackenfuß. In 20%der Fälle ist er mit weiteren muskuloskelettalen Stellungsdeformitäten vergesellschaftet, wie z.B. Hüftdysplasie, Sichel-oder Klumpfuß.  

Die eigentliche Ursache des KMT ist noch unbekannt. Diskutiert werden mehrere Theorien, keine kann jedoch bisher alle mit dem Krankheitsbild vergesellschafteten prä- und postnatalen Befunde schlüssig erklären. Wegen der hohen Inzidenz (=Auftreten) von Beckenendlagen und begleitenden muskuloskelettalen Stellungsdeformitäten vermutet man seit langem einen ursächlichen Zusammenhang mit einer intrauterinen Fehlhaltung bzw. einem Geburtstrauma.

  • Für ein Geburtstrauma sprechen die Ergebnisse mehrerer klinischer Studien. Danach waren Kinder mit einem KMT häufiger nach einer schwierigen Geburt bzw .einer Beckenendlage entbunden worden. Ferner waren Erstgeborene öfter betroffen. Durch Dehnung und Überstreckung von Kopf und Hals während eines länger dauernden Geburtsvorgangs könnten Fasern des M(usculus) sternocleidomastoideus überdehnt werden oder reißen, und es kann dann in die Muskelloge einbluten. Im weiteren Verlauf würde das Hämatom (= Bluterguss) unter fibrotischer (bindegewebig veränderte Muskulatur) Verkürzung der betroffenen Muskelfasern organisiert. Diese These konnte jedoch bisher nicht durch histologische Untersuchungen belegt werden. Dagegen sprechen auch jene Neugeborenen, die nach einem Kaiserschnitt einen KMT manifestieren.
  • Eine intrauterine Zwangshaltung des Föten während des letzten Trimesters der Schwangerschaft, wie z.B. eine Beckenendlage, könnte möglicherweise zur Entwicklung des KMT beitragen oder aber die Folge sein. Diese Theorie wird weiterhin durch die höhere Inzidenz begleitender muskuloskelettaler Stellungsdeformitäten gestützt.
  • Ein Kompartmentsyndrom (= Abquetschung wichtiger innerer Gefäße und Nerven durch darüberliegendes angeschwollenes Gewebe), das auf eine prä-oder perinatale Zwangshaltung zurückzuführen ist, scheint derzeit die schlüssigste Theorie. Darauf weisen Befunde der Kernspintomographie und anatomische Studien von Davids et al. hin, in denen sie unter anderem Gewebedruckmessungen durchführten. Während einer länger dauernden intrauterinen oder perinatalen Zwangshaltung von Kopf und Hals in Inklination, Seitneigung und -rotation steigt in der Loge des ipsilateralen (=gegenüberliegenden) M.sternocleidomastoideus der Gewebedruck und es kommt zu einer ischämischen (= mit Sauerstoff unterversorgtem Gebiet) Schädigung, wie es für das Kompartmentsyndrom beschrieben ist. Dabei wird der M.sternocleidomastoideus selektiv verletzt, und zwar durch örtliches Einknicken oder Quetschen und nicht durch Überdehnung oder Riss, wie man zuvor annahm. Die nachfolgende Ischämie, Reperfusion und Läsionen von nervalen Strukturen im m. sternocleidomastoideus ähneln den pathophysiologischen Abläufen bei einem Kompartmentsyndrom. Dass Kopf und Hals eine derartige Stellung während des Durchtritts durch den Geburtskanal einnehmen können, zeigten weitere Untersuchungen: Anatomischen Studien belegten, dass der M. sternocleidomastoideus ein von einer Faszie umschlossenes Kompartiment darstellt. In- vivo- Untersuchungen bei betroffenen Kindern mittels Kontrastmittel- Radiographie bestätigten den Befund. Die Kernspintomographie zeigte ein ähnliches Bild wie man es im Unterarm oder Bein nach einem Kompartmentsyndrom sieht. In einer Studiengruppe von 48 Kindern waren 44 durch Kaiserschnitt oder Zangenextraktion entbunden worden, in rund einem Viertel der Fälle hatte eine Beckenendlage vorgelegen. Es wiesen also auch Säuglinge einen Schiefhals auf, die durch Kaiserschnitt wegen einer Beckenendlage entbunden worden waren und deren Kopf sowie Hals niemals in den Geburtskanal eingetreten waren; deshalb muss es weitere pränatale Mechanismen für ein Trauma geben.
  • Möglicherweise spielt auch eine genetische Komponente eine Rolle. Eine Forschergruppe berichtete über eine Familie, in der ein KMT bei fünf Mitgliedern einer Familie in drei Generationen auftrat, darunter bei zwei Geschwistern. Als Ursache konnte bei diesen betroffenen Geschwistern der jüngsten Generation anamnestisch eine pränatale Beckenendlage oder schwierige Geburt ausgeschlossen werden. Vermutet wird eine autosomal dominante Erbkrankheit mit unvollständiger Penetranz im Zusammenspiel mit äußeren Einflüssen.

    Fibröse Kontraktur verkürzt den Muskel Beim kongenitalen muskulären Torticollis ist der M.sternocleidomastoideus durch eine fibröse Kontraktur einseitig verkürzt und verdickt. Der verkürzte Muskel zieht Kopf und Hals nach vorn und zur erkrankten verkürzten Seite, das Gesicht ist zur gesunden Gegenseite rotiert Schiefhals. (Abb.1). Die Schiefhaltung des Kopfes kann bereits beim Neugeborenen erkennbar sein. Der verkürzte M. sternocleidomastoideus ist als derber Strang palpabel. In einigen Fällen ist der sternale, in anderen Fällen der klavikuläre Anteil stärker betroffen. Häufig lässt sich in dem verhärteten M.sternocleidomastoideus, meist erst im Alter von zwei bis drei Wochen eine knotenförmige Verdickung palpieren. Ihr Durchmesser beträgt 1 bis 3 cm Die Verdickung ist fest, unter der Haut leicht zu bewegen und offenbar auf Berührung schmerzempfindlich In einigen Fällen verläuft durch den Knoten ein Zweig des N. accessorius; dieser wird geschädigt, so dass der Kopf des M. sternocleidomastoideus denerviert ist.
    Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule ist eingeschränkt. In fortgeschritteneren Fällen tritt der verkürzte derbe Muskelstrang in der seitlichen Halskulisse deutlich hervor, mitunter begleitet von einem ipsilateralem Schulterhochstand.

    Anfangs ist der HWS- Röntgenbefund unauffällig
    Im Anfangsstadium ist der Röntgenbefund der HWS unauffällig. Sekundär kann sich eine kompensatorische Skoliose der HWS entwickeln, bei älteren Kindern findet man vorwiegend eine S- förmige, bei Kindern zwischen ein und drei Jahren dagegen überwiegend C- förmige HWS- Skoliosen. Das Kernspintomogramm entspricht dem Befund einer Fibrose.
    Viele Krankheitsbilder gehen mit einem Schiefhals einher das Spektrum der Krankheitsbilder, die mit einem Schiefhals im Säuglings- und Kindesalter einhergehen, ist groß, denn ein Torticollis kann auch erworben sein, akut oder vorübergehend auftreten und in Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern vergesellschaftet sein.

    Sekundäre Fehlentwicklungen vermeiden welche Behandlung ist angezeigt? Die Berichte über den natürlichen Verlauf und die Behandlungsergebnisse weichen erheblich von einander ab. Übereinstimmend wird berichtet, dass sich der Knoten im M.sternocleidomastoideus in 54% bis 70% der Fälle während des ersten Lebensjahres zurückbildet. Bei einigen dieser Patienten verbleibt im Muskel eine Restfibrose ohne erkennbare klinische Relevanz. In 9% bis 21%der Fälle dagegen verhärten sich sowohl der Knoten als auch der Muskel, und es entwickelt sich ein ausgeprägter muskulärer Torticollis mit sekundären Fehlbildungen. So passt sich während des Wachstums die HWS der Fehlhaltung an, es kann eine knöcherne fixierte Skoliose mit Verkürzungen der tiefer gelegenen Halsmuskulatur entstehen.
    Weiterhin kann sich eine Gesichtsskoliose ausbilden (s. Abb.2). Gesichtsskoliose Denn während des Schlafs, insbesondere in Bauchlage, bevorzugen die betroffenen Säuglinge, auf der erkrankten Seite zu liegen. Dadurch wird ein ungleicher Druck auf den wachsenden Schädel ausgeübt, dies führt zu progressiven Schädelverformungen und Gesichtsasymmetrie mit Tiefstellung des Ohres und Mundwinkels, abgeflachter Wange sowie Schiefstellung des Auges auf der erkrankten Seite. Allgemein akzeptiert wird derzeit, dass fortgeschrittene Fälle mit ausgeprägter Muskelverhärtung operativ behandelt werden müssen. Dagegen gibt es keinen Konsens über die Behandlung im Anfangsstadium bei leicht- bis mittelgradiger Muskelverhärtung. Die Empfehlungen reichen von alleiniger Beobachtung, einem aktiven Programm von Lagerungs- und Übungstherapie –z. B. durch häufiges Umstellen des Bettchens soll der Säugling stimuliert werden, auf optische oder akustische Reize den Kopf entgegen der Verkürzung zu bewegen –, Tragen einer Halsorthese, sanften manuellen Dehnungen bis zu unterschiedlichen operativen Korrekturen.

    Manuelle Dehnübungen vor dem Ende des 1. Lebensjahres beginnen Die manuelle Dehnung des verkürzten M.sternocleidomastoideus und Muskelknotens steht an erster Stelle der konservativen Behandlung. In der Literatur werden Erfolgsraten zwischen 61% bis 99% angegeben. In einer prospektiven Studie behandelten Cheng et al. (2001)zwischen 1985 und 1997 den Schiefhals von 821 Kindern mit manuellen Dehnübungen. Bei Behandlungsbeginn waren alle Kinder jünger als 1 Jahr. Die manuellen Dehnübungen wurden nach einem standardisierten Programm dreimal pro Woche von einem erfahrenen Physiotherapeuten durchgeführt. Jede Behandlung beinhaltete 15 Dehnübungen, dabei wurde der verhärtete Muskel mit sanfter Gewalt jeweils für 1 Sekunde gedehnt, danach folgten 10 Sekunden Pause. Die Eltern wurden angehalten, das Kind zu Hause nur richtig zu positionieren, jedoch nicht passiv zu mobilisieren. Therapieziel war eine vollständig freie Rotation des Kopfes. Konnte dies nach 6-monatiger Therapie nicht erreicht werden, wurde zur operativen Behandlung gewechselt.
    Säuglinge ohne Muskelknoten sprachen im Mittel bereits nach 2,5 Monaten auf die Dehnübungen an, jene mit Muskelknoten nach 3,7 Monaten. Die Indikation für eine anschließende operative Behandlung stellten sie bei 34 von 452 (7,5%) Säuglingen mit Muskelknoten, aber nur bei 8 von 369 (2,1%) Säuglingen ohne Muskelknoten.
    Wann ist eine operative Therapie angezeigt?
    Bildet sich die einseitige Kontraktur des M.sternocleidomastoideus unter einer 6-monatigen konservativen Lagerungs- und Übungsbehandlung nicht zurück und/oder besteht weiterhin ein Rotationsdefizit von >30 ° sollte zur operativen Behandlung geraten werden. Der günstigste Zeitpunkt liegt nach Niethard et al. (1997) gegen Ende des 1.Lebensjahres, eine bereits eingetretene Gesichtsskoliose ist nicht mehr korrigierbar. Nach Canale et al. (1982)ist eine operative Behandlung indiziert, wenn Kinder mit persistierendem Schiefhals erstmals nach dem 1.Lebensjahr vorgestellt werden, da sich die Muskelkontraktur bei spätem konservativem Behandlungsbeginn nur selten löst.
    Mehrere operative Methoden werden beschrieben. Die sicherste Operationsmethode hat sich die biterminale Sternocleidomastoideotomie erwiesen (Abb.3). Opmethode

    Behandlungsergebnisse: Übereinstimmend wird berichtet, dass eine konservative Behandlung um so wirksamer ist, je jünger die kleinen Patienten bei der Erstvorstellung und je geringer das Rotationsdefizit sowie der Grad der Seitneigung sind; sie ist erfolgversprechender, wenn weder ein Muskelknoten noch eine kraniofaziale Asymmetrie besteht. Nachuntersuchungen von 55 Patienten wurden durchgeführt, die während eines Zeitraums von 28 Jahren operativ behandelt worden waren. 48 Patienten hatten keine funktionellen oder kosmetischen Einbußen, nur ein Patient wies bei der Seitneigung zur gesunden Seite ein Defizit von mehr als 10 °auf. Die Gesichtsasymmetrie war bei mehr als der Hälfte der Patienten reduziert oder völlig behoben, sie war vollständig rückläufig, wenn vor dem 5.Lebensjahr operiert worden war.

    Zusammenfassung

    Die Bandbreite der Krankheitsbilder, die mit einem Schiefhals einhergehen ist groß. Ein Torticollis kann angeboren oder erworben sein, akut und vorübergehend auftreten oder chronisch und mit Fehlbildungen vergesellschaftet sein. Er kann sich im Anschluss an Infektionen im Bereich der Halswirbelsäule entwickeln, durch atlantoaxiale Instabilitäten infolge juveniler chronischer Arthritis, Trauma oder im Anschluss an Entzündungen im Nasen- Rachenraum, ferner bei einseitigen Augen- und Ohrenkrankheiten sowie neurogenen oder psychogenen Faktoren. Die Erstuntersuchung eines Kindes mit Schiefhals erfordert deshalb eine differenzierte diagnostische Vorgehensweise und gegebenenfalls ein Gesamtbehandlungskonzept, in das Pädiater, Orthopäden, Neuropädiater, HNO- sowie Augenärzte und wenn nötig, Rheumatologen einbezogen werden sollten.

    Die Darstellungen von Tabellen sowie die Nennung vieler zitierter Autoren wurden bewusst von der Redaktion weggelassen, um den Artikel allgemeinverständlich und übersichtlich zu halten. Die in blauer Schrift ausgedruckten Worte sollen die medizinischen Spezialausdrücke etwas vereinfachend übersetzen.
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